Was bleibt, ist die Neugier

Wenn ich bedenke, dass ein durchschnittlicher Mensch in Europa zwischen 74,9 und 83,5 Jahren alt wird, so nehmen drei Wochen – die Dauer eines des jährlich in Alpbach stattfindenden Forums – nur 0,07% der Lebenszeit ein. Eigentlich nicht genug Zeit, um einen so bleibenden Eindruck zu hinterlassen, dass ich noch Jahre danach davon zehre – und dessen Verarbeitung noch längst nicht vollends abgeschlossen scheint.
Wie kommt es, dass dieser Aufenthalt in den Tiroler Bergen so prägend war? Wieso werden wir niemals müde, anderen wehmütig von unseren Erfahrungen zu erzählen und in Erinnerungen zu schwelgen? Erinnerungen im Leben sind oft von gesellschaftlichen Ereignissen einerseits und von subjektivem Erleben andererseits gefärbt.
2015 war keine Ausnahme, denn die Erinnerung an eine humanitäre Katastrophe ausgelöst durch den Höhepunkt der Flüchtlingswelle nach Europa lässt das Jahr vorerst in einem negativen Licht erscheinen. Dennoch war es für mich dank meiner Teilnahme am Forum Alpbach auch ein besonders formatives Jahr im positiven Sinne.

Inhaltlich denke ich gerne an das Generalthema „InEquality“ zurück, welches eine klare Reaktion auf den vorherrschenden Kontext der Migrationsdebatte war. Synchron zum Höhepunkt der Flüchtlingsdebatte brachte dieses Thema eine Brisanz in das Forum, wie es kaum ein anderes Thema vermocht hätte (es hat seitdem auch nicht an Relevanz verloren).
Hannah, eine Stipendiatin aus demselben Jahr, stimmt mir zu: „Am Eindrücklichsten ist für mich, dass mir auch heute noch in Gesprächen oder beim Lesen eines Artikels oft einfällt, dass ich dazu in Alpbach schon einmal ein Statement gehört oder eine ähnliche Diskussion geführt habe.“
Spannende Inputs und anregende Diskussionen ließen mich wachsen und die Zusammenkunft mit Menschen aus vielen Ländern und Kulturen beeindruckte mich persönlich zutiefst.

Diese persönliche Ebene überschneidet sich ebenso mit den Erinnerungen anderer Teilnehmer*innen. „In Alpbach überzeugt in erster Linie die Offenheit der Menschen“, ist sich Daniel, ebenfalls ehemaliger Stipendiat, sicher, „Diese pluralistische Grundhaltung würde wohl vielen Menschen guttun.“ Hannah ist derselben Meinung. Sie wusste besonders den regen Meinungsaustausch zu schätzen und wie leicht es war, Freundschaften in kürzester Zeit zu knüpfen, wie sie es sonst nur aus Kindheitstagen kannte.
Ich selbst genoss vor allem, wie divers der Kontext die Interaktionsformen waren. Zwar fiel es mir in großen Runden schwer, mich selbst einzubringen, jedoch konnte ich diese Zeit nutzen, mir von Expert*innen Input zu verschiedenen Schwerpunkten zu holen. In den kleineren, familiären Kamingesprächen nutzte ich die Gelegenheit, angeregt mitzudiskutieren und Fragen zu stellen. Besonders schön empfand ich auch die unterstützende Atmosphäre unter uns Stipendiat*innen, denn in drei Wochen auf einem Haufen wächst man ganz schön zusammen.

Letztlich blieb mir noch eine heftige Erkältung in Erinnerung, welche mich ein paar Tage ans Bett fesselte (womit ich für intensive Tage und durchplauderte Nächte bezahlte). Leider hinderte sie mich auch daran, zum letzten und laut Überlieferung besten Empfang des ganzen Forums zu gehen, bescherte mir aber ein paar Sonnenstunden auf der wunderschönen Terrasse von Frau Wöll inmitten der Tiroler Berge. Alles in allem also ein recht verschmerzbarer Preis.

Alpbach hat mich in vielerlei Hinsicht geformt und die Erinnerung daran löst sehr viel in mir aus. Ich habe neue Menschen kennengelernt, mich ausgetauscht, Bücher gelesen, wenig geschlafen, viel gelauscht, hin und wieder die Wanderschuhe gebraucht, getanzt, gelacht, genossen. Alpbach ist so viel mehr als drei Wochen im Leben: Alpbach ist die Neugier, die in Erinnerung bleibt, die nicht versiegt und die ich gerne im Sinne des „Spirits of Alpbach“ weitertrage.

 

Linda Dreier
Stipendiatin 2015

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